MITTELALTERLICHE MUSIKFRAGMENTE IN NORWEGEN Gisela Attinger
(Universitetet i Oslo)
Vor einem guten Jahrhundert machte man die Entdeckung, dass norwegische Archive und Bibliotheken eine wahre Fundgrube für den am nordischen Mittelalter interessierten Musikwissenschaftler sind: hier verbergen sich seit Jahrhunderten eine ansehnliche Menge Pergamentfragmente mit Musiknotation, deren Wiederverwendung als Buchumschläge und Rückenverstärkungen wir es zu verdanken haben, dass sie überhaupt bis in unsere Zeit überlebt haben. Nur ein kleiner Teil dieses Materials ist bisher untersucht worden, aber die Studien zeigen deutlich, wie viele wertvolle Informationen aus diesen unscheinbaren Blättern gewonnen werden können.
Die Handschriftenfragmente sind die frühesten schriftlichen Quellen, die Auskunft über die musikalische Wirksamkeit in Norwegen geben können. Sie bestehen fast ausschließlich aus Resten von Büchern, die einst im Gottesdienst verwendet wurden, und die mittelalterliche Musikgeschichte Norwegens ist deshalb eng mit der Geschichte der katholischen Kirche und dem Schicksal der Kirchenbücher nach der Reformation verknüpft.
Historischer Hintergrund
Verglichen mit anderen Gebieten Europas fasste das Christentum verhältnismäßig spät im Westen von Skandinavien Fuß. Die Eroberungszüge und Handelsreisen der Wikinger sicherten den kulturellen Austausch zwischen den nordischen Ländern und dem übrigen Europa, und an Hand von Steinkreuzen und Runeninschriften lässt sich nachweisen, dass bereits vor der Jahrtausendwende christliches Kulturgut Einfluss in Norwegen ausübte. Den entscheidenden Durchbruch bei der Einführung der neuen Religion schreibt man jedoch den Bemühungen Olav Haraldssons
(König von Norwegen 1015-1028 n. Chr.) zu, der die Bevölkerung dazu zwang, zum christlichen Glauben überzugehen und aus diesem Grund ins Exil vertrieben wurde. Bei seiner Rückkehr nach Norwegen fiel er in der Schlacht von Stiklestad und wurde bald nach seinem Tod heilig gesprochen und als Märtyrer und Nationalheiliger verehrt. Sein Kult verbreitete sich in ganz Skandinavien und war auch außerhalb der nordischen Ländern zu finden.
Die Errichtung des Erzbistums Nidaros in der Mitte des 12. Jahrhundert festigte die Stellung der katholischen Kirche in Norwegen. Eine der Aufgaben, die um diese Zeit in Angriff genommen wurden, war die Erstellung einer Gottesdienstordnung, die für die gesamte Kirchenprovinz Gültigkeit haben sollte. Es wurde u.a. festgelegt, welche Texte an welchen Tagen gelesen und gesungen werden sollten. Diese Anweisungen sind uns in drei isländischen Handschriften erhalten
geblieben. (1) Obwohl sie keine Musiknotation enthalten, sind sie Zeugen für die musikalische Praxis der norwegischen Kirche im Mittelalter, da sie erzählen, welche Gesänge im Gottesdienst ihren Platz hatten. Um die zugehörige Musik zu finden muss man allerdings andere Quellen heranziehen, die nicht nur den vollständigen Text, sondern auch die Melodien enthalten.
Der liturgische Gesang der katholischen Kirche ist unter der Bezeichnung "Gregorianischer Gesang" bekannt, nach dem Papst Gregor des Großen (um 600 n. Chr.), dem man zuschreibt, das unübersichtliche Repertoire von Gesängen in geordnete Formen gebracht zu haben. Die Texte und Melodien waren mehr oder weniger in ganz Europa in Gebrauch. Raum für individuelle Anpassungen und Neuschaffungen gab es meist nur in Verbindung mit Festen für lokale Heilige, denen in der Liturgie bestimmter Kirchen oder Kirchenprovinzen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Im Erzbistum Nidaros waren es vor allem St. Olav, St. Hallvard, St. Sunniva, und St. Thorlak, die mit speziellen Gesängen bedacht wurden.
Lokale Heilige und Feste Als Norwegens Nationalheiliger nahm St. Olav eine Position ein, die ihm kein anderer streitig machte. Dass er in jüngerer Zeit ein beliebtes Objekt für wissenschaftliche Untersuchungen darstellt, ist daher nicht verwunderlich. Die erste Doktorarbeit im Fach Musikwissenschaft, die in Norwegen geschrieben wurde, beschäftigt sich mit den liturgischen Gesängen für die Feier dieses
Heiligen. (2) Zum ersten Mal wurden fragmentarische Reste mittelalterlicher norwegischer Kirchenbücher auf ihren musikalischen Inhalt hin untersucht und der Öffentlichkeit vorgestellt. Diese erste Präsentation der unter der Bezeichnung ,Olavsmusik' laufenden Gesänge für Stundegebete und die Messe wurden später durch weitere Funde, vor allem auch aus schwedischen Archiven, ergänzt.
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Für St. Thorlak, Bischof von Skalholt 1178-1193 und Nationalheiliger Islands, ist uns in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert ein vollständiges Offizium erhalten. Analysen von Texten und Melodien zeigen, dass das Offizium des Heiligen Dominikus als Modell für das Thorlaksoffizium gedient haben
muss. (4) St. Hallvard, der Schutzheilige von Oslo, wurde wahrscheinlich auch mit einem eigenen Offizium gefeiert. Falls ein solches existierte, ist es jedoch verloren gegangen. Für das Fest der Heiligen Sunniva und ihrer Genossen sind die Texte eines Offiziums im gedruckten Breviarium aus dem 16. Jahrhundert überliefert. Es sind leider keine Quellen für die dazugehörigen Melodien bekannt.
Es gibt zwei weitere mittelalterliche Handschriften mit Gesängen, die nur eine begrenzte Verbreitung fanden. Die eine enthält die so genannte "Magnushymne", eine zweistimmige, strophische Komposition, deren Text auf den Heiligen Magnus, Schutzheiliger der Bewohner der Orkney-Inseln, hinweist. Sie hat auf Grund der Tatsache, dass sie mehrstimmig ist, viel Aufmerksamkeit in der nordischen Musikforschung
erhalten. (5) Die andere Handschrift ist die einzige Quelle für ein Offizium zur Feier einer Reliquie des Heiligen Bluts, von der man annimmt, dass sie im 12. Jahrhundert in den Besitz der Domkirche in Trondheim kam. Dieses Offizium "De susceptione sanguinis" ist neben dem Olavsoffizium und dem Offizium für den Heiligen Thorlak der einzige vollständig erhaltene Zyklus von Stundengebeten, von dem man mit großer Sicherheit sagen kann, dass er im Erzbistum Nidaros entstanden ist. Die Gesänge des Offiziums sind auch hier zum größten Teil-mehr oder weniger verändert-aus der Liturgie anderer Feste übernommen worden. Nur wenige davon sind nicht auf andere Vorlagen zurückzuführen, so dass sie vermutlich als Originale, die für dieses besondere Fest geschrieben wurden, angesehen werden können. Ein entsprechendes Offizium für eine Reliquie des Heiligen Bluts ist sonst nur aus dem süddeutschen Kloster Weingarten
bekannt. (6)
Sequenzen
Neben den Heiligenoffizien gaben auch die Sequenzen, die erst verhältnismäßig spät einen festen Platz in der Messe erhielten, die Möglichkeit, lokale Neuschaffungen in die streng geregelte Liturgie einzubringen. Für viele Norweger ist die Sequenz "Lux illuxit laetabunda" für den Heiligen Olav der Inbegriff mittelalterlicher norwegischer Kirchenmusik. Weniger bekannt ist die Sequenz für St. Hallvard, die nicht nur mit denselben Worten wie die Olavssequenz anfängt, sondern offenbar auch musikalisch mit dieser verwandt ist. Außer diesen zwei Kompositionen ist bisher keine der Sequenzen, die der Liturgie von Nidaros eigen sind, Gegenstand von gründlichen musikwissenschaftlichen Untersuchungen geworden. Die im Jahre 1968 veröffentliche Edition und Faksimileausgabe von norwegischen und isländischen Sequenzfragmenten bildet trotz ihrer Mängel einen guten Ausgangspunkt für Studien der Sequenztradition in der Kirchenprovinz von
Nidaros. (7)
Quellensituation
Viele Aspekte der Kirchenmusik im norwegischen Mittelalter sind bisher völlig unbeachtet geblieben. Ein Grund dafür ist u.a. die Tatsache, dass nur ein kleiner Rest von den einst zahlreichen Manuskripten erhalten ist, und dass das überlieferte Material wegen fehlender Kataloge und Inventare zum Teil schwer zugänglich ist. Auch wenn in Norwegen die katholischen Kirchenbücher nicht systematisch zerstört wurden, wie es z.B. in England der Fall war, ist keine einzige vollständige Handschrift überliefert. Nach der Reformation hatten die Kirchenbücher mit der veralteten Liturgie ausgedient und waren überflüssig geworden. Ihr Schicksal ist zum größten Teil unbekannt, ein Teil wurde jedoch anderweitig wieder verwendet. Wir finden Bruchstücke von Manuskripten in Blasebälgen für Orgeln, sie wurden zum Reparieren von Schuhen und Kleidern benutzt, und einzelne Seiten tauchen auch als Schnittmuster auf.
Am häufigsten aber fanden sie neue Verwendung als Buchbindematerial. Dass es überhaupt Zeugen der mittelalterlichen, liturgischen Buchkultur in Norwegen gibt, verdanken wir der Wiederverwendung von zerschnittenen Kodizes als Schutzblätter oder als Rückenverstärkung von Steuerlisten und anderen Verwaltungsdokumenten aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Letztere wurden auf Papier niedergeschrieben, und das Pergament alter Kirchenbücher oder anderer Handschriften mit z.B. Sagatexten oder Gesetzen eignete sich ausgezeichnet zur Sicherung der Rückenheftung. Da man dazu meistens keine ganzen Blätter benötigte, wurden die Seiten zurechtgeschnitten und ohne Rücksicht auf Verluste dem neuen Verwendungszweck angepasst.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde man auf diese Informationsquelle aufmerksam und fing an, den Inhalt der zerlegten Handschriften zu studieren. Den Fragmenten mit lateinischem Text wurde jedoch zuerst keine Beachtung geschenkt. Nur Texte, die in der Landessprache geschrieben waren oder aus anderen Gründen nationalkulturelles Interesses erweckten, wurden genauer untersucht. Ein halbes Jahrhundert verging ehe die Entdeckung, dass eines der Fragmente ein Bruchstück eines Gesangs für St. Olav enthielt, den Anstoß zu einer gründlicheren Erfassung der Fragmente mit liturgischem Inhalt gab. Die Buchrückenverstärkungen wurden von den Steuerlisten abgetrennt, und man begann, die abgenommenen Blätter zu systematisieren. Die alten Kirchenbücher waren zum Teil sehr umfangreich, und eine Handschrift konnte als Material für die Heftung von einer ganzen Reihe von Papierdokumenten gebraucht werden, so dass man oft mehrere der Fragmente ein und derselben Handschrift zuordnen oder sogar zu einer Seite zusammensetzten kann.
Die größte Sammlung mittelalterlicher Fragmente mit norwegischer Herkunft befindet sich heute im Nationalarchiv in Oslo. Kleinere Bestände gibt es auch in anderen norwegischen Institutionen. Da Island im Mittelalter zur Kirchenprovinz von Nidaros gehörte, sind auch isländische liturgische Handschriften für die norwegische Musikgeschichte von Interesse. Diese befinden sich hauptsächlich in Archiven in Reykjavik und Kopenhagen. Die auf Island aufbewahrten Fragmente sind in den letzten Jahren zum größten Teil fotografiert und im Internet veröffentlicht.
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Seit 2002 werden im norwegischen Nationalarchiv die dort aufbewahrten Fragmente systematisch erfasst und in einem elektronischen Katalog, der den Zugang zu diesem Material in Zukunft erleichtern wird, zusammengestellt. Man kann nur hoffen, dass die anderen norwegischen Archive die Möglichkeit haben, sich diesem Projekt anzuschließen oder eigene Kataloge der Öffentlichkeit zugängig zu machen. Erst dann ist die Voraussetzung für eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der für die frühe norwegische Musikgeschichte höchst interessanten Handschriftenfragmente geschaffen.
Universitätsbibliothek
Oslo, Ms. UHS 02/24264. Ein Blatt aus einer spätmittelalterlichen
Sequenzenhandschrift mit gotischer Musikknotation, die als Buchumschlag
für ein gedrucktes Buch aus dem 16. Jahrhundert verwendet wurde.
Nationalarchiv
Oslo, Lat. fragm. 283. Ein typisches Beispiel eines
Handschriftenfragments, das zur Rückenverstärkung einer Steuerliste
oder eines anderen Verwaltungsdokuments verwendet wurde. Es ist auf
beiden Seiten beschnitten und dann gefaltet worden. Im Falz lassen sich
beim genauen Hinschauen Löcher erkennen, die durch das Heften
entstanden sind. Rechts unten sind Ort und Jahreszahl des Dokuments, an
dem es befestigt war, aufgeführt.
Gisela
Attinger hat Musik und Musikwissenschaft studiert und promovierte 1999 an der Universität Oslo mit einer Arbeit über norwegische Offizienfragmente aus dem 13. Jahrhundert. Sie ist jetzt als Fachreferentin für Musik- und Theaterwissenschaft an der Universitätsbibliothek in Oslo tätig und hat eine Forschungsstelle am Institut für Musik und Theater.
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Lilli Gjerløw, Ordo Nidrosiensis Ecclesiae, Libri Liturgici provinciae Nidrosiensis medii aevi, Bd 2 (Oslo: Norsk historisk kjeldeskrift-institutt, Rettshistoriske kommisjon, 1968).
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Georg Reiss.: Musiken ved den middelalderlige Olavsdyrkelse i Norden, Videnskabsselskabets Skrifter, 2, Hist.-Filos. Klasse, Bd 1911:5 (Christiania [Oslo]: Dybwad, 1912).
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Das Olavsoffizium
war vor wenigen Jahren erneut der Gegenstand einer Doktorarbeit: Eyolf Østrem, The Office of St. Olav: a Study in Chant Transmission, Studia Musicologica Upsaliensia, Nova Series, 18 (Uppsala: Uppsala University Library, 2001.
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Róbert Abraham
Ottósson, Sancti Thorlaci Episcopi officia rhythmica et proprium missae in AM 241a folio, Bibliotheca Arnamagnaeana, Supplementum, Bd 3 (Kopenhagen: Munksgaard, 1959).
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Eine Abbildung
dieser Hymne und eine kurze Zusammenfassung der Forschungssituation finden sich in "Tiden før 1814: Lurklang og Kirkesang" in Norges Musikkhistorie, hrsg. Arvid O. Vollsnes, Bd 1 (Oslo: Aschehoug, 2001), S. 75.
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Gisela
Attinger, "Offisiet De susceptione sanguinis: norske gudstjenester fra middelalderen?" Diplomarbeit, Universität Oslo, 1993. Eine englische Edition des Offiziums ist in Arbeit.
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Erik
Eggen, The Sequences of the Archbishopric of Nidarøs, Bibliotheca Arnamagnaeana, Supplementum, Bd 21-22 (Kopenhagen: Munksgaard, 1968).
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Siehe http://ismus.bok.hi.is/
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